Organpflichten in der Krise: Das Urteil des OLG Frankfurt und seine Implikationen für das Bankmanagement

​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​veröffentlicht am 20. November 2025

Kernaussagen des Urteils

Das Urteil des OLG Frankfurt vom 8. Mai 2025 (3 U 113/22) konkretisiert die Pflichten von Geschäftsleitern in der Unternehmenskrise und hebt insbesondere die Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO als nicht delegierbare Kardinalpflicht hervor. Das Gericht betont, dass jedes Organmitglied eigenständig Verantwortung trägt, unabhängig von Ressortzuschnitten oder internen Zuständigkeitsverteilungen. Sobald (drohende) Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung eingetreten ist, besteht die Pflicht, unverzüglich zu handeln und alle erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.

Darüber hinaus stellt das OLG klar, dass im Krisenstadium eine gesteigerte Pflicht zur aktiven Lagebeobachtung besteht. Die Geschäftsleitung hat die finanzielle Situation des Unternehmens fortlaufend zu überwachen, die Liquidität anhand verlässlicher Planungsrechnungen zu analysieren und eine fundierte Fortführungsprognose einzuholen. Sanierungsmaßnahmen und insolvenzrelevante Schritte sind zeitkritisch zu initiieren und dürfen nicht erst dann erfolgen, wenn der Liquiditätszusammenbruch bereits manifestiert worden ist.

Besonders bedeutsam ist die rechtliche Einordnung der Insolvenzantragspflicht als Kardinalpflicht. Die Verletzung von Kardinalpflichten ist typischerweise eine wissentliche Pflichtverletzung. Das Gericht führt aus, dass sich das subjektive Fehlverhalten aus der Evidenz des objektiven Pflichtverstoßes ergeben kann. Weder der fehlende Rückgriff auf externe Beratung noch unzureichende Liquiditätsplanungen entlasten die Geschäftsleitung; vielmehr interpretiert das Gericht solche Versäumnisse als bewusste Pflichtverletzung. Mit der Einordnung der Insolvenzantragspflicht als Kardinalspflicht erhöht sich das Risiko, dass schon ein leicht fahrlässiges Übersehen der Insolvenzantragspflicht als wissentliche Pflichtverletzung gewertet wird.

Als optional einzuordnende, jedoch relevante Nebenfrage weist das Urteil indirekt darauf hin, dass das Zusammenspiel zwischen Geschäftsleitung und externen Stakeholdern – etwa Banken – in Unternehmenskrisen zunehmend regulatorisch und haftungsrechtlich betrachtet wird, ohne jedoch formelle Leitlinien zur Einflussnahme Dritter vorzugeben.

Relevanz für Banken 

Obwohl sich das Urteil formal an Geschäftsleiter richtet, entfaltet es erhebliche Auswirkungen auf die Tätigkeit von Kreditinstituten. Banken agieren in Krisensituationen nicht nur als Gläubiger, sondern als aktive Risikosteuerungsakteure, die nach MaRisk verpflichtet sind, Risiken frühzeitig zu erkennen, laufend zu beurteilen und einzugreifen, sobald sich wirtschaftliche Verschlechterungen abzeichnen. Wenn eine Bank erkennen konnte oder erkennen musste, dass ein Kreditnehmer insolvenzreif ist oder sich einer solchen Situation annähert, kann sie ihre Verantwortung nicht allein auf den Geschäftsführer des Unternehmens verlagern.

Das Urteil schärft daher die Erwartung, dass Banken selbst aktiv werden, wenn sich Anhaltspunkte für Insolvenzreife ergeben. Sie müssen belastbare Fortführungsprognosen einfordern, Krisenentwicklungen engmaschig überwachen und Entscheidungen nachvollziehbar dokumentieren. Untätigkeit kann im späteren Insolvenzverfahren als Mitverursachung einer Vermögensminderung interpretiert werden. Damit rückt die Bank deutlich stärker in den Fokus haftungsrechtlicher Betrachtungen und ist gefordert, ihre Aufsichts- und Steuerungsfunktion im Kreditgeschäft konsequent wahrzunehmen.

Konkrete Pflichten und MaRisk-Bezüge

Die MaRisk bilden den aufsichtsrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen das Urteil einzuordnen ist. Sie verlangen von Kreditinstituten ein Risikomanagementsystem, das die laufende Analyse der wirtschaftlichen Lage des Kreditnehmers ermöglicht und eine frühzeitige Reaktion auf Krisenindikatoren sicherstellt. Die kontinuierliche Informationsbeschaffung, die Bewertung der Liquiditäts- und Ertragslage sowie die regelmäßige Überprüfung von Frühwarnsignalen gehören zu den grundlegenden Pflichten.

Ein einmalig zu Vertragsbeginn erstelltes Fünfjahreskonzept genügt nicht; vielmehr sind fortlaufende Soll-Ist-Vergleiche erforderlich, um sicherzustellen, dass die prognostizierten Sanierungsmaßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Der IDW-S6-Standard, der eine zweistufige Prüfung aus Fortführungsprognose und Rentabilitätsprognose vorsieht, stellt hierbei die in der Praxis etablierte Grundlage dar.

Hinzu kommen umfassende Dokumentations- und Governancepflichten. Die Geschäftsleitung der Bank muss regelmäßig über kritische Engagements informiert werden. Die Trennung zwischen Kreditvergabe und Risiko-Controlling muss funktionsfähig sein, und Eskalationsmechanismen sind zwingend einzuhalten. Fehlt es an einer lückenlosen Dokumentation der Risikobewertung und der getroffenen Maßnahmen, steigt das Haftungsrisiko erheblich. Das Urteil macht deutlich, dass die Bank ihre Entscheidungen nachvollziehbar begründen können muss.

Ein weiterer zentraler Pflichtbereich betrifft die Vermeidung einer insolvenzreifen Weiterfinanzierung. Erkennt die Bank, dass ein Kreditnehmer insolvenzreif ist, oder hätte sie dies erkennen müssen, ist sie verpflichtet, ihre Finanzierungsentscheidungen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls einzuschränken oder zu beenden. Die Fortsetzung der Kreditgewährung ohne tragfähige Fortführungsprognose kann eine eigene Pflichtverletzung darstellen.

Risikofolgen (Haftung und Governance)

Für Kreditinstitute ergibt sich aus dem Urteil eine deutliche Verschärfung der Haftungs- und Governanceanforderungen. Wenn Banken Krisensignale ignorieren oder die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens nicht ausreichend prüfen, riskieren sie, im späteren Insolvenzverfahren als Mitverursacher einer Masseverkürzung angesehen zu werden. Dies betrifft sowohl die Bank als juristische Person als auch die handelnden Organmitglieder, die sich persönlichen Haftungsansprüchen ausgesetzt sehen können.

Neben den juristischen Risiken zeigt das Urteil eine systemische Grauzone auf –​​ Banken sollen einerseits aktiv steuern und Krisenentwicklungen beeinflussen, dürfen andererseits jedoch nicht in die Rolle einer faktischen Geschäftsführung geraten. Diese Abgrenzung erfordert klare interne Richtlinien und eine präzise Dokumentation des eigenen Handelns. Eine unzureichende Steuerung oder eine zu weitgehende Einflussnahme können gleichermaßen problematisch sein.

Praxisempfehlungen und Fazit

In der praktischen Umsetzung bedeutet das Urteil für Banken, ihre Prozesse in der Krisenfrüherkennung und im Sanierungsmanagement weiter zu schärfen. Die Systeme zur Identifikation von Frühwarnindikatoren müssen regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Sobald sich erste Hinweise auf eine mögliche Insolvenzreife zeigen, ist eine vertiefte Analyse einzuleiten, die die Liquiditäts- und Ertragslage des Unternehmens umfassend bewertet.

Ebenso wichtig ist die konsequente Einforderung aktueller Fortführungsprognosen und Sanierungskonzepten im Krisenfall. Die Bank muss sicherstellen, dass die zugrunde gelegten Planungen realistisch und nachvollziehbar sind und regelmäßig überprüft werden. Abweichungen vom Sanierungsplan sind zeitnah zu dokumentieren und in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.

Ein weiterer praxisrelevanter Aspekt betrifft die interne Governance. Kreditinstitute sollten ihre Eskalationswege überprüfen und klar definieren, ab wann und in welchen Fällen die Geschäftsleitung einzubeziehen ist. Nur wenn diese Informationen vollständig und zeitnah vorliegen, kann die Bank ihrer Verantwortung gerecht werden und haftungsrechtliche Risiken minimieren. Darüber hinaus empfiehlt es sich, Mitarbeitende im Kredit- und Risikobereich regelmäßig zu schulen, um ein einheitliches Verständnis der Insolvenzantragspflichten des Kreditnehmers und ihrer Bedeutung für das Bankverhalten sicherzustellen.

Das Fazit lautet, dass das Urteil des OLG Frankfurt die Erwartungen an ein aktives und gut dokumentiertes Kreditrisikomanagement deutlich erhöht. Kreditinstitute können sich nicht auf die Eigenverantwortung des Kreditnehmers verlassen, sondern müssen die finanzielle Lage ihrer Kunden im Krisenfall konsequent überwachen und Sanierungsprozesse aktiv begleiten. Das Urteil stärkt die aufsichtsrechtlichen Anforderungen der MaRisk und hebt die Bedeutung einer systematischen, frühzeitigen und lückenlos dokumentierten Steuerung hervor. Damit entsteht sowohl eine Chance, Kreditrisiken besser zu erkennen und zu begrenzen, als auch eine Herausforderung, die internen Strukturen und Ressourcen so auszurichten, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden.


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